Wenn der Geist willig ist, aber der Körper schwächelt

 Es gibt einen weiteren Ausspruch von Klient.innen, der mich sehr alarmiert und der lautet:

“Ich weiß nicht, wie ich das alles hinkriegen soll, aber irgendwie muss es gehen…“

Mein Klient saß völlig abgespannt und müde vor mir. Es war unübersehbar, dass er ziemlich am Ende seiner Kräfte war. Gerade hatte er über die fortschreitende ernsthafte Erkrankung seiner Frau berichtet und was dadurch alles im normalen Familienalltag nicht mehr funktioniert. Gleichzeitig leitete er beruflich ein großes und wichtiges Team gerade zu einem Zeitpunkt, der viel Vorstandsaufmerksamkeit genoss.

Ich kannte meinen Klienten als Workaholic mit viel Energie und hoher Wirkkraft weit über seinen eigenen Bereich hinaus. Er genoss das Vertrauen seiner Vorstände ebenso wie das seiner Mitarbeiter und er hatte in der Vergangenheit schon einige Kohlen für das Unternehmen aus dem Feuer geholt. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Deswegen lotete ich die Chancen mit ihm aus, wie er sich kurzfristig Zeitfenster für die Unterstützung seiner Frau in einer Notsituation sichern könnte. Denn er hatte sich vorgenommen, sowohl die private Notsituation als auch die berufliche Herausforderung gleichzeitig gut zu bewältigen.

Zu effektivem Arbeitseinsatz braucht es in der Regel einen starken Willen. In meiner jahrelangen Erfahrung als Headhunterin bestätigte sich immer wieder: Der Wille eines Kandidaten ist mehr als die halbe Miete. Willenskraft stellen wir uns oft als unerschöpfliche Quelle vor, die uns befähigt, all unsere Ziele zu erreichen und Herausforderungen zu meistern. Gerade Viel-Leister tendieren dazu, ihre physischen, aber auch die psychischen Kräfte zu überschätzen. Tatsächlich ist Willenskraft eine begrenzte Ressource, die sich nicht zuletzt auch mit der Zeit verbraucht.

Das Prinzip des Willens ist ähnlich wie ein Muskel beim Sport: um einen nachhaltig wirksamen Effekt zu erlangen, muss die Belastungsintensität hoch genug sein und über die einzelnen Einheiten auch immer wieder etwas gesteigert werden. Dann reagiert der Körper und baut Muskeln auf oder eben auch den Willen. Aber eine Tatsache ist genauso essenziell: Muskeln wachsen nicht im Training, sondern in der Ruhephase. In dieser Regenerationszeit tankt der Körper Kraft, um optimal auf die nächste Einheit vorbereitet zu sein.

Genauso wie die Erholung im Sport die wichtigste Ergänzung darstellt, ist es auch für die Willenskraft unerlässlich. Studien zeigen, dass unser Willen sich verringert, wenn wir ihn über einen längeren Zeitraum hinweg überbeanspruchen oder zwanghaft aufrechterhalten wollen. Dann tritt Erschöpfung auf, weil unser Gehirn dafür viel Energie benötigt. Und genau wie unser Körper beim Muskelaufbau braucht auch unser Willen Zeit, um sich zu erholen und wieder aufzuladen.

Manchmal lautet die Frage eben: Was geht gerade jetzt noch? Oder auch: Wie komme ich gesund an mein Ziel?

Im Falle meines Klienten schlug ich vor, dass er seine Arbeitskraft um mindestens einen, besser zwei Tage in der Woche reduziert und dies für die volle Unterstützung seiner Frau nimmt. Seine erste Reaktion war: Völlig undenkbar ist das, bei uns kann man als Führungskraft nicht Teilzeit arbeiten.Es ging dann aber doch. Er war als langjähriger Viel-Leister bei seinem Vorstand gut verankert. Und die Situation war eine Ausnahme. Das war auch seinem Vorstand klar.

Erholung ist die wichtigste Ressource für Muskeln und für unsere Willenskraft. Wenn der Körper diese Möglichkeit der Regeneration nicht erhält, wird es zu Gegenreaktionen kommen. Wenn wir über unsere Ressourcen hinweg gehen, nehmen wir das Risiko, dass wir dauerhaft gute Kompetenzen beschädigen. Dauerhafte Doppelbelastungen wie die geschilderte kann kein Mensch über lange Zeit ertragen. Und gerade, wenn es schwierig wird, sollte dem Thema Erholung und Pause mit diesem Wissen umso sorgfältiger Beachtung geschenkt werden.

Ein hilfreicher weiterer Effekt bei meinem Klienten war das Verständnis im Kollegenumfeld, das er über die Offenlegung seiner Umstände gewinnen konnte. Und sein schlechtes Gewissen konnte so auch ausbleiben.

Wenn wir lernen, unsere Grenzen zu akzeptieren und mit unseren Ressourcen als ein endliches Gut umzugehen, stärken wir unsere Willenskraft, weil wir uns selbst Respekt entgegenbringen. Dafür braucht es manchmal  ein klares „Nein“ oder auch das klärende Gespräch mit dem Vorgesetzten. Sie glauben, das kann nicht funktionieren? Dann lassen Sie sich wie mein Klient positiv überraschen – in der Regel wird einem weit mehr Verständnis entgegengebracht als man selbst vermutet hätte.