
Für uns alle hält das Leben einen bunten Blumenstrauß an Erfahrungen und Ereignissen parat. Einige sind schön, angenehm und inspirierend, andere sind schlimm, unangenehm und niederdrückend. Und manchmal fragen wir uns, warum gerade uns etwas passiert – in der Regel bei den unangenehmen und nicht bei angenehmen Situationen. So wie zwei meiner Klienten kürzlich:
„Warum passiert mir das? Warum muss ich diesen Unsinn umsetzen? Es gibt so viele Gründe dagegen und ich verstehe nicht, dass mein Vorstand das nicht verstehen kann. Das kann ich doch meinen Mitarbeitern nicht verkaufen. Das ergibt alles keinen Sinn.“
Diese Fragen habe ich in diesem Tenor von Klienten in einer kürzlichen Coaching-Sitzung gehört, genau genommen von zwei unterschiedlichen Klienten in ähnlicher Formulierung. Einmal ging es um das Umsetzen von Agilität und der Frage nach dem Sinn dahinter. Und im zweiten Fall ging es um die gerade angeordnete weitestgehende Rücknahme einer Homeoffice-Regelung eines asiatischen Headquarters für die deutschen Standorte.
Hilfreiches Hinterfragen oder nutzloser Opfergedanke?
Nicht nur im Führungsbereich ist manchmal die Frage nach dem Warum nicht nur ungünstig, sondern weder zielführend noch hilfreich, sondern führt aus dem aktiven Gestalten heraus und direkt in eine Ohnmacht hinein. Viktimologie ist der Teil in der Kriminologie, der sich mit den Opfern befasst und deren Leid mildern möchte. In der Viktimologie ist die Frage nach dem „Warum“ eine sogenannte Opferfrage. Schon indem ich die Frage stelle, fühle ich mich klein, ohnmächtig und anderen unberechenbaren Kräften ausgesetzt. Ebenso wirkt die Frage übrigens auch, wenn es um Krankheit geht. Warum habe gerade ich diesen komplizierten Verlauf meiner Operation oder diesen Krebs trotz gesunder Lebensführung? Das ist ein allzu nachvollziehbarer Gedanke, der dennoch nicht hilfreich ist und uns in eine dem Heilungsprozess nicht dienliche Haltung bringt. Kurzum: Die Frage nach dem Warum bringt uns keinen Schritt weiter.
Dabei meine ich nicht die sinnvollen Warum-Fragen. Wer Kinder hat, der weiß, wie oft „Warum?“ gefragt wird und wie unermüdlich eine weitere Warum-Frage nach der anderen folgt. Da baut die Frage nach dem Warum nützliches Wissen auf, zeugt von Verstehen-wollen, Neugier und Interesse. Ich meine auch nicht diese Warum-Fragen im Simon-Sinek-Modell (der Goldene Kreis von why, how und what), wo es um den zentralen Purpose eines Unternehmens, einer Einheit oder eines Menschen geht. Diese Warum-Frage beschäftigt sich ausgiebig und im Kern eher mit dem Wofür.
Es gibt sogar Menschen mit einer diagnostizierten Opfermentalität. Das können, müssen aber nicht, Menschen sein, die vielleicht Schlimmes oder gar Traumatisches erlebt haben und die Welt eher negativ sehen oder immer eher negative Konsequenzen erwarten. Doch wie ist es im Management? Führungskräften wird Macht gegeben und von ihnen werden Entscheidungen erwartet. Die (manchmal ernüchternde) Erfahrung an der Spitze ist, dass es immer noch stärkere Macht gibt, nach der sich ausgerichtet werden muss: der nächsthöhere Vorstand, das Headquarter, der Aufsichtsrat, der Börsenkurs, wichtige Investoren oder mächtige Großkunden, die Wiederwahl oder die Bestätigung in einer Funktion. Keine Entscheidung von Führungskräften und Topmanagern ist losgelöst von einem komplexen System zu treffen, das einen selbst einbezieht.
Opfer oder Gestalter – das ist hier die Frage
In Managementaufgaben ist die Warum-Frage einfach nicht nützlich. Denn einer Lösung bringt mich die Frage nicht näher. Vielmehr sind wir oft in diesen Momenten nicht bereit, eine (vielleicht eben doch) notwendige Veränderung vorzunehmen und halten deswegen am „Warum“ fest, drehen uns praktisch damit in die Opferhaltung mit ungünstiger Energie hinein statt – wie es von Führungskräften durchaus erwartet wird – uns einen eigenen Weg zu suchen, vielleicht mit einer Umformulierung: „Wofür könnte dieser vermeintlich unsinnige Vorschlag letztlich doch eine gute Seite haben?“ oder „Wie kann ich das nutzen, selbst wenn es nicht meine Wahl ist?“.
Nicht falsch verstehen: Ich plädiere nicht dafür, dass nichts mehr hinterfragt werden oder stumpf umgesetzt werden soll, was „von weiter oben“ kommt. Ganz im Gegenteil wünsche ich mir manchmal von Top-Führungskräften, dass sie mehr einstehen für das, woran sie glauben. Ich plädiere jedoch sehr für eine bewusste Energiesteuerung, ein kluges Abwägen, wo mein Widerstand nützt. Und immer wieder plädiere ich für ein Dahinterschauen – hinter meine eigene Fassade und meine eigene Motivlage.
Warum-Fragen hinterfragen!
In beiden Fällen habe ich übrigens mit meinen Klienten sehr akribisch nach dem jeweiligen Kernthema gesucht: In einem Fall war der Hintergrund ein Bleiben oder Gehen-Thema. Und im anderen Fall zeigte sich ein Loslassen-Thema, da unvermeidlich erschien, dass ein gerade gut funktionierendes Team durch die Maßnahme wieder in Aufruhr gebracht werden würde.
Manchmal steckt hinter einer „Warum“- Frage ein anderer Wunsch, oft eine Sehnsucht oder auch ein regelrechtes Lebensthema. Und hier lohnt sich die Energie, genau das zu beleuchten.
Nutzen Sie Ihre Chancen, aber bitte hören Sie auch nicht auf zu fragen.